Im Auge des Sturms

06.09.2017 (Mittwoch) Carmen schreibt:
Irgendwann zwischen 10-11 Uhr beginnt es. Der Wind baut sich auf, es wird immer lauter. Ich glaube, den starken Druckabfall in den Ohren zu spüren. Immer wieder lassen Böen das Haus erzittern. Mit jedem Windstoss wähnen wir uns am Höhepunkt des Sturms, um kurz darauf eines Besseren belehrt zu werden. Jede weitere Böe ist noch stärker, lässt uns schaudernd hoffen, dass uns nicht bald alles um die Ohren fliegt. Die aufgestapelte Möbelwand vor der Fensterfront bebt, neben uns verbiegt sich eine Holztür (siehe Foto!). Wir wechseln erneut den Raum. Schliesslich zieht das Auge des Sturms über uns hinweg, für ca. 30 Minuten wird es ganz still, bevor der Wind noch einmal mit ungeminderter Vehemenz für zwei Stunden über uns hinwegfegt.

Sobald der Sturm nachlässt, serviert das Hotel Reis und Chicken. Alle sind erschöpft und hungrig, erleichtert – geschafft! Jemand lässt Musik laufen. In unserem Zimmer ist alles nass, die Tür lässt sich nicht mehr verschliessen, der Wind hat sie aufgedrückt. Bäume und Palmen sind nackt, wie nach einem Brand. Wir haben nun Meersicht – unglaublich, am Morgen sah draussen alles noch ganz anders aus! Vielen Häusern um uns herum fehlt das Dach. Autos stehen verloren mitten auf der Strasse herum. Das Wellblech auf dem Nachbardach weht im Wind als wäre es Zellophan.

Hotel Castle Maria – so der Name unserer Unterkunft, der dieses Mal nicht treffender sein könnte. Das solide Haus am Hügel hat dem Sturm tapfer die Stirn geboten. Die Hotelfamilie war die ganze Zeit präsent und hat sich um die Gäste gekümmert.

10.09.2017 (Sonntag) Tobias schreibt:
Die Vorteile eines Swimmingpools liegen meist nicht sofort auf der Hand. Die eines grossen Plastikeimers im Badezimmer noch weniger. Zusammen sorgen sie aber dafür, dass man selbst nach tagelangem Fehlen von Wasser immer noch ein funktionierendes WC hat. Zeit um das Wasser zu schleppen hat man ja zu genüge! Ah, und apropos Badezimmer: Die Wände sind voll Blätterschnitzel. Es sieht aus als hätte jemand in unserem Badezimmer Hecken geschnitten. Die Schnitzel aber, die sind durch das Lamellenfenster gekommen.

Vor vier Tagen ist der Sturm über die Insel gefegt. Die Schäden sind immens. Die zuvor bewaldete Insel ist kahl. Heuschrecken sitzen bei uns im Hotelgang auf der Suche nach Nahrung. Umgekehrte Autos Phone Number Trace , Schiffe und Dächer säumen die Strassen. Die Strom-, Wasser- und Kommunikationsversorgung ist fast vollständig zusammengebrochen (wir können noch SMS schreiben). Und doch fehlt etwas. Nichts passiert. Hausbesitzer versuchen gebrochene Fenster zuzunageln. Andere schaufeln den Morast, den sich auf ihrer Strassenseite angesammelt hat auf die andere Seite. Ansonsten, Nichts. Keine Polizei, keine Behörden, keine Sirenen, kein Radio, keine Informationen. Zugegeben, der Sturm war einmalig. Doch scheint es vor allem dazu zu führen, dass die Leute hordenweise auf Pickups sitzen und beim vorbeifahren die Szenerie Filmen.

Gestern hat der erste Supermarkt seine Tore wieder geöffnet. Trotzdem ist nicht klar, ob sich die Situation verbessern, in welche Richtung sich das Ganze entwickeln wird. Ab sechs Uhr abends gibt es eine Ausgangssperre (wissen wir vom Hörensagen). Während ich beim Taxistand bin, wird dieser am helllichten Tag und vor den Augen der Taxifahrer geplündert (wir wurden auch Zeugen von weiteren Plünderungen!). Wir entscheiden uns, die Insel vorerst zu verlassen. Dank riesen Unterstützung (Danke Christoph, danke Chrugi!) haben wir auch schon Flugtickets für Mittwoch bekommen. Nun hoffen wir, dass der Flughafen bis dann seinen Betrieb wieder aufgenommen hat.

12.09.2017 (Dienstag) Carmen schreibt:
Mitten in der Nacht erreicht uns die Nachricht, dass unser Flug gecancelt wurde (erneut: Danke Chrugi und Christoph!). Unsere Helfer buchen einen neuen Flug, der Tortola bereits um 10 Uhr verlassen soll. Es bleibt wenig Zeit, ein Taxi zu organisieren und an den Flughafen zu kommen. Noch immer liegt Allerlei auf den Strassen herum, Taxis sind rar, die Schlangen vor den Tankstellen lang. Ein flüchtiger Bekannter nimmt uns schliesslich in seinem völlig verbeulten Auto mit. Am Flughafen beginnt das lange Warten. Wir zittern darum, dass unser Flug durchgeführt wird. Niemand weiss wann und wo man anstehen muss. Viele Familien mit Kindern sind am warten. Und dann kommt die vernichtende Nachricht: unser Flug wurde erneut abgesagt. Was nun? Nach knapp einer Woche ohne fliessend Wasser und nur spärlich Strom, mit wenig Essen und viel Ungewissheit, wollen wir einfach nur weg.

Expats werden von ihren Firmen mit gecharteten Flugzeugen ausgeflogen und Tobias gelingt es schliesslich, die junge Frau, welche für die Treuhandfirma „Harneys“ vor Ort alles koordiniert, für sich zu gewinnen. Wir warten und hoffen. Und dann, die junge Frau ruft uns im Vorbeigehen zu: „ich bekomme euch raus, es klappt!“. Es geht plötzlich ganz schnell. Wir müssen getrennt fliegen. Es bleibt keine Zeit lange zu überlegen. Alle wollen einen Flug, wenn wir die Gelegenheit nicht packen, ist sie weg. Tobias überlässt mir das erste Ticket und bevor ich überhaupt begreife, was vor sich geht, stehe ich schon auf dem Rollfeld und mir wird bewusst, dass ich eigentlich gar nicht weiss, wohin wir fliegen. Ist es wirklich Puerto Rico? Wir sind nur neun Passagiere, einer davon sitzt auf dem Sitz des Copiloten. Das kleine Flugzeug holpert Richtung Piste, als unser Pilot merkt, dass ihm ein Papier fehlt. Er muss anhalten und das Papier suchen gehen, ob wir aussteigen wollen. Nein, lieber schwitzen wir und warten. In der Zwischenzeit sehe ich in einiger Distanz, wie Tobias in einer kleinen Gruppe seinen roten Koffer über das Rollfeld schiebt und in eine andere Maschine einsteigt. Schliesslich taucht unser Pilot wieder auf – es kann losgehen!

Tobias und ich haben es beide nach Puerto Rico geschafft. Wir sind in einem schönen Hotel, geniessen den Luxus der Zivilisation, füllen Schadensformulare für unsere Versicherung aus und erkunden San Juan. Was wir bisher von der Stadt gesehen haben gefällt uns ausserordentlich gut. Noch wissen wir nicht, wie es weitergeht. Ob wir mit einem Bus Nord- oder Südamerika bereisen oder uns erneut an das Projekt „Boot“ heranwagen ist noch ungewiss, aber es wird irgendwie weitergehen.

Ein riesen grosses Dankeschön für all die Hilfe, die wir von euch erhalten haben und dass ihr mit uns mitgefiebert und -gelitten habt!

Wir halten euch auf dem Laufenden, bis bald, Mast- und Schotbruch!

 

 

Eine Antwort auf „Im Auge des Sturms“

  1. Sieht ja schlimm aus – aber euch geht’s gut, das ist ja die Hauptsache. Ich drücke euch die Daumen, dass sich euere IMAGINE wieder segeln lässt, der Traum also nicht geplatzt ist.
    Toi, toi, toi aus der Schweiz – Liz

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